in Amazon Toolbox, Analyse

Der Paukenschlag ist mittlerweile verhallt. Aber als er im Februar ankündigte, an der Spitze seines Unternehmens den Platz für einen Nachfolger zu räumen, war der Überraschungscoup perfekt. Viele hadern damit, am Zenit ihrer Macht abzutreten und damit der alten Weisheit Folge zu leisten, dass man dann besser gehe, wenn es am Schönsten ist. Bezos tat es einfach. 

Klassisch Jeff Bezos. Ein Mann, dessen Vorgehensweise, wäre er denn Norddeutscher, mit dem Motto „Nicht lange snacken, Kopp in Nacken“ gut beschrieben wäre. Mit seinem Hang zum Machen, wo andere zaudern, hat er Amazon gegründet, ausgebaut und zu bislang ungekannten Höhen geführt. Dabei machte er selten einen Hehl daraus, wie ihm seine Kunststücke gelangen. Deswegen genossen seine Letters to Shareholders immer so viel Aufmerksamkeit: Hier erklärte ein – vielleicht: Der – Ausnahme-Unternehmer seiner Generation freimütig, Jahr für Jahr, Schritt für Schritt und in aller Offenheit, wie er seinen Weltkonzern erschuf. 

Nun also erschien vor ein paar Wochen sein letztes Schreiben an die Aktionäre. Was sagt uns denn dieses Finale über Bezos und über das nach seinem Bilde erschaffene Amazon?

Eine glänzende Bestandsaufnahme – mit einigen Überraschungen

Vielleicht das Offensichtlichste zuerst: Hier lässt einer seine Erfolge Revue passieren – und zwar berechtigterweise. Denn nach nur 25 Jahren Bestand steht das Unternehmen Amazon nämlich folgendermaßen da:

Last year, we hired 500,000 employees and now directly employ 1.3 million people around the world. We have more than 200 million Prime members worldwide. More than 1.9 million small and medium-sized businesses sell in our store, and they make up close to 60% of our retail sales. Customers have connected more than 100 million smart home devices to Alexa.

Es handelt sich also um ein Unternehmen der Sonderklasse, bei der es zur Verbildlichung nur noch Ländervergleiche tun. Amazon hat so viele Mitarbeiter wie Estland Einwohner. Und wären Prime-Mitglieder ein Land, würde sich dessen Bevölkerungszahl vermutlich an fünfter Stelle – direkt nach dem bevölkerungsreichen Inselstaat Indonesien (264 Millionen Menschen) und noch vor Brasilien und Pakistan (jeweils 207 Millionen) – einpendeln. Bezos lässt übrigens – vermutlich aus Pietätsgründen – den schon länger exorbitant und nun noch einmal in der Coronakrise sprunghaft angestiegenen Gesamtumsatz unerwähnt, der fürs Jahr 2020 als Bruttoinlandsprodukt Amazon zwischen Argentinien und Österreich situieren würde.

Stattdessen stellt er einige andere interessante Berechnungen an – etwa wer die Aktionäre sind und um wie viel genau sie über die Jahre von Amazon profitiert haben:

We’ve created $1.6 trillion of wealth for shareowners. Who are they? Your Chair is one, and my Amazon shares have made me wealthy. But more than 7/8ths of the shares, representing $1.4 trillion of wealth creation, are owned by others. Who are they? They’re pension funds, universities, and 401(k)s, and they’re Mary and Larry, who sent me this note out of the blue just as I was sitting down to write this shareholder letter.

Im Folgenden fügt Bezos einen Brief von besagten Kleinaktionären der ersten Stunde ,Mary und Larry ein, aus dem hervorgeht, dass zwei 1997 gekaufte Aktien mittlerweile reichen, um eine satte Anzahlung für ein Eigenheim aufzubringen. Das ist ein sehr geschickter – und keineswegs tatsachenverdrehender – rhetorischer Schachzug von Bezos, um den sagenhaften Reichtum, zu dem er gekommen ist, ins Verhältnis zu stellen. Tatsächlich ist es mir schon immer zu billig gewesen, auf die Gründer von Jahrhundertunternehmen und deren enormen Verdienste zu schimpfen: Klar, Jeff Bezos hat sich eine goldene Nase verdient – wie Bill Gates oder Henry Ford vor ihm auch. Was oft genug dabei unbeachtet bleibt: Solche Unternehmer schöpfen auch Werte für ihre Anteilseigner. In den USA sind diese zu einem nicht unbeträchtlichen Teil vergleichsweise „kleine Fische“, deren Depots nicht in die Millionen oder Milliarden gehen, die aber dank der Investition einen bescheidenen Wohlstand sichern. Das im Letter to Shareholders einmal herauszuarbeiten, ist legitim. (Übrigens sei hier zum Vergleich einmal angemerkt, dass die reichsten Unternehmer Deutschlands – die ALDI-Brüder – keinen solchen weitverbreiteten Wertezuwachs generiert haben: Wie so viele der größten Konzerne hierzulande scheuen sie Streubesitz und halten lieber alles in Familienhand.)

Eine weitere ungewöhnliche und äußerst legitime Berechnung aus dem Brief: Wie viel Zeitaufwand Amazon seinen Kunden über die Jahre erspart hat.

Customers complete 28% of purchases on Amazon in three minutes or less, and half of all purchases are finished in less than 15 minutes. Compare that to the typical shopping trip to a physical store – driving, parking, searching store aisles, waiting in the checkout line, finding your car, and driving home. Research suggests the typical physical store trip takes about an hour. If you assume that a typical Amazon purchase takes 15 minutes and that it saves you a couple of trips to a physical store a week, that’s more than 75 hours a year saved. That’s important. We’re all busy in the early 21st century.

Auch diese Sichtweise ist typisch Bezos: Erfrischend anders und absolut ehrlich. Gewissermaßen gibt er hier ein großes (Nicht-)Geheimnis des Amazon-Erfolgs preis: Es spart den Leuten Zeit. Wer die Geschichte des Unternehmens kennt, weiß um die Bedeutung des früh eingeführten one-click buy. Kunden lieben Amazon unter anderem deswegen, weil es wahnsinnig schnell geht – vor allem Kunden in den endlosen amerikanischen Haus-mit-Vorgarten-Vororten, die sonst für jeden Kleineinkauf in ihre Autos steigen müssen. (Und eben auch die 60% der Deutschen, die nach wie vor nicht in den größten Ballungszentren der Bundesrepublik leben und die es ebenfalls so langsam leid sind, immer in die Stadt fahren zu müssen, wenn ihnen im Neubau-Eigenheim mit Carport das Küchenkrepp ausgeht.)

Die Schattenseiten des Amazon-Erfolgs – ebenfalls mit Überraschungen

Ebenso interessant wie der gut begründete Bombast der ersten Hälfte seines letzten Aktionärsschreibens ist allerdings der Platz, der sich Bezos in der zweiten Hälfte für einen vorauseilenden Widerspruch gegen Kritik an Amazon – und daher an ihm und seinem Vermächtnis – einräumt. 

Eine erste Feststellung: Rund ein Viertel der ca. 4100 Wörter im 2021 Letter to Shareholders entfallen auf Absätze, in denen Bezos entweder die Vorwürfe dementiert, Amazon würde seinen Lagerhallenarbeiter schlecht behandeln oder Amazons neue Initiative beschreibt, der weltbeste Arbeitgeber mit den weltweit sichersten Arbeitsplätzen zu werden. 1170 Wörter zu Arbeitnehmerthemen sind enorm viel, wenn man bedenkt, dass der legendäre erste 1997 Letter to Shareholders überhaupt nur 1630 Wörter zählte, von denen bloß 126 den Arbeitnehmern galten – und wo maßgeblich ihre „Aufopferungsbereitschaft“ beschworen wurde.

Lange schien Bezos – und mit ihm sein Konzern – nach dem Motto zu verfahren: „Einmal den Ruf ruiniert, lebt es sich herrlich ungeniert“. Vielleicht wird einem allerdings der Ruf doch wieder etwas wichtiger, wenn man sich mit wachsendem Alter fragt, was von einem zurückbleiben wird. Klar ist, Bezos will nicht als Menschenschinder in die Geschichte eingehen und versucht nun einiges zurechtzurücken:

If you read some of the news reports, you might think we have no care for employees. In those reports, our employees are sometimes accused of being desperate souls and treated as robots. That’s not accurate. (…) Employees are able to take informal breaks throughout their shifts to stretch, get water, use the restroom, or talk to a manager, all without impacting their performance. These informal work breaks are in addition to the 30-minute lunch and 30-minute break built into their normal schedule.

Ich lasse das mal so stehen, merke aber lediglich an, dass zahlreiche systematische Verstöße gegen arbeitsrechtliche Standards in verschiedenen Ländern von so vielen Mitarbeitern, Gewerkschaften und unabhängigen, vertrauenswürdigen Medien dokumentiert worden sind, dass man eigentlich nur zum Schluss gelangen kann, dass da etwas dran ist. Man darf ebenfalls annehmen, dass Bezos arg suboptimale Zustände in der Amazon-Fulfilment-Maschinerie lange Zeit wenn nicht aktiv so gestaltet, doch zumindest im Streben nach dem besten Kundenerlebnis billigend in Kauf genommen hat.

So viel gibt er ja auch selbst zwischen den Zeilen zu. Mitten in einer Breitseite gegen Gewerkschaften heißt es dann plötzlich: „I think we need to do a better job for our employees.“ Später kommt dann folgender Schlüsselpassus:

Despite what we’ve accomplished, it’s clear to me that we need a better vision for our employees’ success. We have always wanted to be Earth’s Most Customer-Centric Company. We won’t change that. It’s what got us here. But I am committing us to an addition. We are going to be Earth’s Best Employer and Earth’s Safest Place to Work.

Danach folgen weitere 825 Wörter zu einem weiteren Engagement, das der scheidenden Bezos seinem Unternehmen auf die Fahne schreibt: The Climate Pledge. Amazon wolle schnell grüner werden. Auch hier bekommt man den deutlichen Eindruck, es schreibe einer mehr als ein Stück weit an seiner eigenen Geschichte und versuche auf den letzten Metern so einige Versäumnisse zu korrigieren. Weshalb es auch etwas wundert, dass der Begriff „tax“ lediglich einmal im Schreiben vorkommt. Denn neben der Missachtung der Arbeitnehmerrechte sowie den steigenden Emissionen durch den Betrieb von Lagerfläche, Lieferlogistik und Rechenzentren ist die Steuermoral immer der dritte Kritikpunkt, der an Amazon angebracht wird. Allerdings hat Bezos hier bereits vorgebaut: In einer überraschenden Wendung forderte er Anfang April selbst höhere Unternehmenssteuern! Auslöser war wohl, dass kein geringerer als US-Präsident Joe Biden Amazon namentlich unter den Unternehmen erwähnte, die seiner Ansicht nach allzu aggressiven Gebrauch von Steuerschlupflöcher machten. 

Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass Amazon in meinen Augen seine politische Kommunikationsstrategie wohl deswegen vernehmbar in Richtung Versöhnlichkeit verändert hat, weil regulatorische Eingriffe mittlerweile eins der größten Risiken für den Fortbestand des Konzerns darstellen. Man könnte ja Amazon locker in einen Marktplatzbetreiber, ein Werbeunternehmen und einen Hosting-Anbieter aufspalten und hätte immer noch drei der größten Firmen der Welt (die übrigens meine Meinung nach auf längerer Sicht vielleicht kompetitiver wären, als der Großtanker Amazon es künftig noch bleiben wird…). Ob Bezos nun wirklich ein Geläuterter ist oder einfach nur jetzt so tut – um seines Rufs sowie um die Unversehrtheit seines Lebenswerks willen – , ist unwichtig. Ihm ist jedenfalls wohl klar geworden, dass Amazon künftig etwas mehr auf den Unterschied wird achten müssen zwischen dem, was es per Gesetz (oder eben per Gesetzeslücke) darf und dem, was es in den Augen einer zunehmend kritischen politischen Öffentlichkeit eigentlich sollte.

Das sind natürlich alles Themen für seinen Nachfolger, Andy Jassy, dem er zum Schluss allerdings einen gewichtigen Gedanken mit auf den Weg gibt, der vor allzu viel Anpassung an äußeren Erwartungen warnt: „Differentiation is survival and the universe wants you to be typical.“ Mit einem ausführlichen Zitat aus dem Werk von Evolutionsbiologen Richard Dawkins beschreibt Bezos nichts Geringeres als die Eigenschaften vom Leben an sich: Die Unterscheidung und Abgrenzung von der unmittelbaren Umgebung. Wo es kalt ist, sind Lebewesen wärmer. Wo es trocken ist, halten Lebewesen Flüssigkeit. Arbeiten Lebewesen nicht daran, sich von der Umgebung zu differenzieren, sterben sie. Das Leben ist immer – und auch hier sehe ich in Bezos eine weitere norddeutsche Haltung (allerdings der etwas melancholischeren Sorte) – Streben, Anstrengung, Müh. 

Bezos schließt sein Schreiben daraufhin mit folgendem Appell samt seiner bekanntesten Lösung: „Never, never, never let the universe smooth you into your surroundings. It remains Day 1.

Es war aber nur so lange Day One, wie die Ausnahmeerscheinung Bezos an der Spitze seines Unternehmens stand – und nur so lange, wie der Markt und der Staat keine Antwort auf Amazon fanden. Beides ändert sich gerade. Jetzt kommt Day Two.

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