in Entrepreneur Radar

Wer hier länger mitliest, wird bereits folgendes von mir wissen: Ich finde, in Vorstandsetagen und Finanzabteilungen weiß man entschieden zu wenig über die konkrete bilanztechnische Ausgestaltung der digitalen Welt. Zudem neige ich gelegentlich zur Schwarzseherei – beziehungsweise ich wende einfach einen (vielen zu) sehr realistischen Blick auf Unternehmen und Märkte an. Und ich mag es hin und wieder gerne mal etwas literarisch.

Und wem das alles gefällt, der wird heute nicht enttäuscht!

Zunächst mal der literarische Vergleich. Kennt ihr eigentlich „Käsebier erobert den Kurfürstendamm“? Es ist ein sträflich vernachlässigtes Werk der deutschen Zwischenkriegsliteratur, das leider vor den Döblins, Falladas und Manns der Weimarer Jahre in die zweite Reihe geraten ist. Die Autorin Gabriele Tergit schildert auf eine für unser Medienzeitalter durchaus relevante Art und Weise den künstlich von der Publizistik herbeigeschriebenen Aufstiegs und den darauffolgenden rasanten Falls eines höchstens mittelmäßig talentierten Berliner Volkssängers – Georg Käsebier – in Zeiten der Weltwirtschaftskrise. Mit von der Partie – und ebenfalls äußerst relevant für heute – Immobilienhaie und Spekulanten, die das Planungsrecht missbrauchen und den finanziellen Druck nach unten an ihre Subunternehmer durchreichen (aber das ist ein anderes Thema).

Eine Szene aus dieser unterhaltsamen Lektüre ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Eine alte Witwe muss aus ihrer viel zu großen Wohnung ausziehen, in der sie bislang notgedrungen Zimmer untervermietet hatte, weil ihr bereits durch die Hyperinflation der 20er entwertetes Vermögen nun in der Krise der frühen 30er Jahre endgültig verschwunden ist. Sie tröstet sich aber damit, dass die wuchtigen Möbel, die sie sich in der Glanzzeit der belle époque angeschafft hat, immerhin noch etwas wert sein werden. Bis ihr beim Auszug klar wird: Alle sind jetzt nur noch scharf auf Bauhaus! Die schweren Holzbuffets (mit einigen Kratzern) und die üppig bezogenen Stühle (mit deutlichen Gebrauchsspuren) taugen folglich nur noch für den Lumpenhändler – der womöglich für die kostspielige Entsorgung sogar Geld verlangen wird.

Jetzt machen wir einen Gedankensprung vom verarmten Berlin der frühen 1930ern zur Start-up-Metropole von heute – und von der Literatur der Weimarer Zeit zu den Entwicklerrunden in jungen Unternehmen. Hier kommt vermehrt das Thema technical debt auf: Damit ist die „Schuldenlast“ gemeint, die aufgebaut wird, wenn die Software-Entwicklung nicht sauber oder zu schnell durchgeführt wird (häufig bedingt ja Letzteres Ersteres). Einige Start-ups leben insofern auf Pump, als dass sie zwar durchaus first to market waren und damit glänzten, jetzt aber auf Jahre hinaus hinter den Kulissen wieder umbauen müssen, um die „Lassen wir mal fünf gerade sein“-Lösungen der rauschenden Anfangszeit zu beseitigen. Und so läuft vielen CTOs beim Ausdruck technical debt eiskalt den Rücken runter, da hier viele Entwicklerstunden für Refactoring und Aufarbeitung von eigentlich bereits fertig gestellten Projekten nach vorne raus erklärt – und vor allem bezahlt – werden müssen.

Technical Debt: Nicht nur Berlin, sondern auch Bonn, Bingen und Böblingen.

Und völlig zu Recht ist ihnen bange. Nur sollten meiner Meinung nach nicht nur in Berlin-Mitte führende IT-ler schlaflose Nächte verbringen. Ich finde nämlich, dass bei jeder Konzernführungssitzung die Frage nach dem technical debt gestellt werden sollte. Ebenso sollte diese Position als Rückstellung auf Bilanzen eine feste Position bekommen. Investieren Unternehmen doch schon seit Jahren viel zu wenig in die technische Infrastruktur – und dann sollen auf einmal sämtliche Problemstellen mit einem Ruck aufgelöst werden.

Wohin das führt, kann man überdeutlich an der Entwicklung von zahlreichen SAP-Projekten verfolgen. Denn hier wird oft die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Die toxische technical debt – sprich: das Chaos vielzähliger, über Jahrzehnte stückwerksweise aufgebauter Legacy-Systeme – wird nicht unterschlagen, sondern einfach komplett verkannt. Was als Befreiungsschlag gedacht ist, der all diese alten Systeme zusammenführen oder ersetzen soll, artet dann regelmäßig in eine zermürbende Stellungsschlacht aus, in der Kosten exorbitant anwachsen und vor dem Einsturz gefährdete provisorische Lösungen mangels angekündigter SAP-Wunderwaffe doch noch jahrelang weiterlaufen müssen.

Die WiWo hat letztens eine lange Liste der fehlgeschlagenen SAP-Einführungen und -Umbauten aufgestellt, die von Hersteller wie Haribo über Einzelhändler wie Edeka bis zu Geldinstituten wie die Deutsche Bank so ungefähr die gesamte Deutschland AG tangiert. Bei Lidl beliefen sich die Kosten vom „Elwis“ getauften SAP-Durchstart auf 500 Millionen – also: eine halbe Milliarde – Euro, bis er sang und klanglos beerdigt wurde. (Um hier übrigens nicht nur auf SAP und deutsche Großkonzerne rumzuhacken: Das bislang wohl „biggest IT failure ever seen“ ereignete sich in Großbritannien, als sich das dortige landesweite Gesundheitswesen an eine Rundumerneuerung seiner Systeme versuchte. Die Kosten waren im Zeitraum 2002-2014 auf 10 Milliarden Pfund hochgeschnellt, bis das Monster-Projekt ohne brauchbares Ergebnis gestoppt wurde. Heute dient es der Forschung als Negativ-Fallbeispiel schlechthin.)

Aber trotz dieser enormen Fallhöhe habe ich bisher noch keine einzige CFO-Präsentation gesehen, in dem das Thema technical debt auch nur angeschnitten wird. Dabei sollten Investitionen in Technologien von rund 3-5% des Umsatzes die Regel sein: Alles, was darunter liegt, lässt schon einmal Rückschlüsse darauf zu, dass in der Bilanz so einiges an unerkanntem technical debt schlummert.

Man fühlt sich irgendwie diffus an 2008-2009 erinnert: Damals wurden Schulden – in dem Fall für Hypotheken in den USA – nicht als gefährliche Passiva betrachtet, sondern sogar mal als Aktiva verkauft und verbucht. Das ging Jahre lang gut, weil einfach keiner die Frage stellte, was das Zeug war. Zwar werden hier keine Anteile an alten IT-Systemen in undurchsichtigen Konstruktionen als A-Ware auf der Börse verhökert und der Vergleich taugt insofern nur begrenzt. Aber Bilanzen – und somit Aktienwerte – werden durchaus schöngerechnet, wenn die teils gewaltige Last an technical debt überhaupt nicht ausgewiesen wird.

Daher zurück zur anfänglichen literarischen Szene mit der glückslosen Witwe, die in der Illusion verharrt, ihre alten Möbel seien doch noch zu etwas gut – bis sie schlagartig einsehen muss, dass sie sie sogar Geld kosten werden…

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