in Entrepreneur Radar

Bei meinem letzten Besuch in London konnte ich wieder eine spannende Anregung mitnehmen – allerdings aus einem dem ersten Anschein nach alles andere als inspirierenden Kontext. Ich quälte mich nämlich mit einem extrem schlecht gelaunten Taxifahrer durch den dichten innerstädtischen Verkehr und er erzählte mir ausführlich und enthemmt sein ganzes Leid.

Zuallererst war ihm zufolge Boris Johnson „voll doof“ (auf eine Übersetzung des genauen Wortlautes verzichte ich: So ein Digitalkaufmann ist ja auf einen adäquaten Auftritt bedacht). Zwar konnte ich aus vielen Gründen da nur voll zustimmen, aber mein Chauffeur störte sich zumeist daran, dass der chaotische Hasardeur Johnson damals in seiner Funktion als Londoner Bürgermeister neuartige Radwege auf der Straße („bike lanes“) einführte, die zu einem völligen Kollaps des bereits stark hinkenden Verkehrs geführt haben. Warum er nach dieser Meisterleistung im Kleinen den Brexit im Großen maßgeblich mitbestimmen durfte, bleibt mir persönlich ein Rätsel – aber okay, englische Exzentrizität und so.

Der Fahrer redete sich nun warm – und dann richtig in Rage. Neben den verkehrstechnischen Nachwirkungen der Amtszeit vom Tölpel Johnson mühe er sich nämlich auch noch mit der ganzen Konkurrenz von Uber, Blacklane, MyTaxi & Co. ab. (Auch hier überspringe ich aus Gründen des guten Geschmacks die genauen Bezeichnungen, die er für seine Mitbewerber auf dem Asphalt übrig hatte). Ohne dass ich auch nur die Frage stellen musste, warum er sich mit ein wenig das Geschäft bekanntlich belebender Konkurrenz so schwer tat, betete er mir seine Sicht der Dinge herunter.

Die Black Cabs seien doch ikonisch und ein unverzichtbarer Teil der Geschichte der Stadt London! Touristen wollten sie sehen und mit ihnen fahren! Zudem wüssten die geprüften Fahrer ganz ohne Karte oder elektronische Hilfestellung, wo sie wie hinmüssen: die als „The Knowledge“ bekannte Prüfung zu bestehen und eine der begehrten Lizenzen zu bekommen, sei unglaublich schwierig und ein patentes Qualitätsmerkmal. Dann das Taxi selbst: Ein Sonderfahrzeug, das geräumig sei und Schutz sowie Privatsphäre für Fahrer und Kunde gleichermaßen biete. Ich solle mir auch mal die Kosten dafür klarmachen! Eine echte Investition sei das!

Je weniger wir im Verkehr vorankamen, desto ärgerlicher wurde der gute Mann. Black-Cab-Fahrer wie er hätten seit Generationen geholfen, die Wirtschaft der britischen Hauptstadt buchstäblich in Bewegung zu halten und zum ikonischen Stadtbild beigetragen – und nun dürfe sich jeder Heinzi (auch hier war die Wortwahl im Originalen um einiges bunter…) mit zwei Augen und vier Rädern ein Taxifahrer nennen und die Preise dabei kaputt machen. Eine Schande sei das! Und eine Gefahr! Ich solle nur warten, nur warten solle ich, bis der erste übermüdete Uber-Fahrer einen Großunfall baue oder einen Fahrgast sexuell belästige. Dann werde man sehen!

Was ich – abgesehen von der Kreativität der englischen Sprache in dem, was Schimpfwörter und deren mehrfachen Einsatz innerhalb eines Satzes angeht – an diesem Gespräch Monolog erstaunlich fand: Diese Argumente decken sich (minus Kleinigkeiten) zu 100% mit den Argumenten vieler deutscher Firmen, die ich als Berater vorgetragen bekomme: „Aber Herr Seebach, wir sind doch eine MARKE! Wir haben eine über Generationen zurückreichende BEZIEHUNG mit unseren Kunden! Wir stehen für QUALITÄT wie kein anderer!“ Und so weiter und so fort.

Wie sich dieser Duktus auf niveauvollem Englisch anhört, konnte ich während der sich immer weiter in die Länge ziehenden Taxifahrt der Werbung am Klappsitz im hinteren Abteil des – zugegebenermaßen überaus geräumigen – Gefährts entnehmen:

  1. „It’s a recognisable taxi and you can trust the quality“ – zu Mittelstandsdeutsch: „Marke mit Wiedererkennungswert und Qualitätsversprechen“
  2. „It has an adjustable child restraint harness and a unique swivel seat for improved access“ – bzw. „Produktmerkmale und einzigartige Besonderheiten“
  3. „It’s convenient and readily available when you need one“ – „Immer für Sie da!“
  4. „It has a safe and comfortable private passenger compartment“ – „Für Ihre Sicherheit und Ihren Komfort“

Und genau wie beim deutschen Mittelständler lautet mein Fazit: Alles super, nur nicht mit der Zeit gedacht. Die eigenen Features wie Brand, Service, und einzelne Produktmerkmale werden in den Vordergrund gestellt. In der neuen, digitalen Welt zählen aber für den Kunden nur noch Preis, Angebot und Verfügbarkeit. Diese von Amazon ins Extreme gedachten und umgesetzten Werte trumpfen jedes Mal aufs Neue. So einfach ist das. Wenn man also nicht in jeder dieser Kategorien der jeweils Beste ist, dann machen die neuen Mitbewerber das Rennen. Dann kann man so viele „swivel seats“ haben wie man will, denn der Kunde entscheidet sich trotzdem für die schnelle App, weil er lieber fünf als zehn Minuten wartet, beziehungsweise von der Haustür abgeholt werden und nicht auf offener Straße um ein gerade vorbeifahrendes Black Cab buhlen möchte.

Vor allem: Als ich den Fahrpreis dann zahlen musste und feststellte, dass dieser einen nicht unerheblichen Prozentsatz des Fluges in die britische Hauptstadt ausmachte, verstand ich, warum immer mehr Briten auf Uber & Co. umsteigen. Das letzte Mal so viel für eine Fahrdienstleistung bezahlt habe ich wohl in Wien nach einer Fiaker-Tour. Das gab auch viel Flair und Tradition – noch dazu mit mehr Romantik und weniger schlechte Laune!

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