Man kennt das: Amazon nimmt sich eine Produktkategorie nach der anderen vor, macht seinen Kunden, die sich seit Jahren immer gedankenloser beim Konzern mit Waren eindecken, ein überaus konkurrenzfähiges Angebot – und plötzlich haben die nächsten, bis vor kurzem als unbesiegbar geltenden Platzhirsche ein Problem. So geschehen mit Büchern, mit Musik, mit Elektronik. So auch geschehen mit dem Konzept stationärer Handelsgeneralisten: Karstadt und Kaufhof klammern nun im Moment des endgültigen Untergangs fest aneinander. „Der Nächste, bitte!“ An den leeren Kassen verhallen die Worte.
In Stein gemeißelt ist der Sieg von Amazon aber nicht immer. In einigen Bereichen können es andere Player immer noch besser: Weder das Mode- noch das Möbelsegment sind – wie einst prophezeit – dem Riesen widerstandslos zum Opfer gefallen. Auch im Bereich Food mussten Amazon und viele Branchenbeobachter so manch vollmundige Ankündigung relativieren. Im Food-Segment verteidigen viele Hersteller und Händler dank rechtzeitiger Innovationen und Verbesserungen on- wie offline ihre Stellung erfolgreich.
Aber da, wo Vertreter einer satten Branche, die es gewohnt sind, dass die Leute nur zu ihnen kommen, es verschlafen, ihr Angebot auf die Höhe der Zeit zu bringen – da ist der Erfolg eines Amazon-Angriffs beinahe unausweichlich. So im Paketgeschäft. Dass Amazon mit den bestehenden Paketdiensten im höchsten Maße unzufrieden ist, ist nichts Neues. Schließlich gefährdet die sprichwörtlich gewordene Unzuverlässigkeit von DHL, Hermes & Co. einen enorm wichtigen Bestandteil des Amazon-Versprechens: Dass es auf der Plattform jederzeit fast alles zu einem konkurrenzfähigen Preis gibt und es auch zuverlässig geliefert wird. Ebenfalls lange bekannt: Der US-Konzern glaubt nicht, dass die Paketdienste am Markt ihre Kapazitäten schnell genug ausbauen und die Qualität in dem Maße verbessern können, wie er es selber tun kann. Schon 2017 berichtete beispielsweise die WELT darüber: „Amazon baut die eigene Paketzustellung massiv aus“.
Und vor Kurzem – wieder in der WELT unter dem Titel „Amazon bereitet radikalen Wandel in der Paketzustellung vor“ – war Folgendes zu lesen: „Lag die Zustellquote von eigenen Paketen Anfang 2017 bei etwa zehn Prozent, so stellt Amazon aktuell jedes zweite Paket in den USA selbst zu.“ Was für eine Entwicklung und das innerhalb von nur drei Jahren! Inzwischen wurden auch viele Deutsche schon einmal von einem Amazon-Boten beliefert: In den deutschen Großstädten werden durch eine Art ‚Uber für Pakete‘ die Kapazitäten selbständiger Paketboten optimal (jedenfalls für Konzern und Kunden…) eingeteilt. Immer öfter heißt es nun: „Hallo, Amazon-Lieferung! Bitte einmal unterschreiben!“
Bei verfrühten und nicht eingehaltenen Ankündigungen ist es in diesem Fall also nicht geblieben: Diese Amazon-eigene Zustellung ist nicht die neue „Paketdrohne“, die seit Jahren immer wieder medienwirksam angeteasert wird, um dann doch (noch) nicht zu kommen. Dafür „fliegt“ Amazon selbst bereits seit Jahren, aber bislang eher unter dem Medienradar. Die WELT hat nun ihren Peilsender angeschaltet und eine Entdeckung gemacht: „Schon heute ist Amazon der weltweit viertgrößte Transportkonzern, wenn es um die eigene Flugzeugflotte geht. Nur die Post-Tochtergesellschaft DHL und United Parcel Service sowie Federal Express aus den USA verfügen über noch mehr Frachtflugzeuge. Gestartet ist die erst vor vier Jahren gegründete Fluglinie Amazon Air mit zehn Maschinen, mittlerweile sind 50 Transportflugzeuge für die Gesellschaft unterwegs.“ Derzeit würde man sich in Seattle ebenfalls über eine eigene Containerschiffsflotte Gedanken machen.
So weit, so erkennbar: Amazon vertikalisiert die Lieferkette, um immer mehr Wertschöpfungsschritte unter die eigene Kontrolle zu bekommen, weil das Unternehmen sie besser und günstiger ausführen kann. Einst kaufte Amazon Akkus ein und verkaufte sie weiter. Mittlerweile lässt der Konzern unter der Marke „Amazon Basics“ selber welche herstellen. Früher kaufte man bei Amazon DVDs von Serien ein, die von HBO & Co. produziert wurden. Heute guckt man auch Eigenproduktionen von Amazon Prime – möglicherweise mithilfe eines Amazon-Fire-Streaminggerätes.
Die echte Disruption im Bereich Logistik liegt aber meines Erachtens nicht in der bloßen Vertikalisierung der Lieferkette: Das machen ja viele andere genauso. Auch Netflix setzt immer mehr auf Eigenproduktionen und kaum ein erfolgreicher Händler, ob online oder offline, lässt es sich heutzutage entgehen, mit Eigenmarken die Marge zu erhöhen: DM verkauft einem lieber „Balea“-Fußbutter als ein Produkt aus dem Hause Beiersdorf; ähnlich agiert die große Online-Parfümerie Flaconi, die mit Eigenentwicklungen im Bereich Körperpflege um die Ecke kommt. Ganze Ketten wie H&M und Zara kennen seit Jahren nur das Prinzip der totalen Vertikalisierung von Herstellung, Logistik und Handel.
Nein, was viel revolutionärer ist: Über Amazon FBA („Fullfillment by Amazon“) stehen die vom Konzern neu aufgebauten Logistikkapazitäten allen Händlern auf der Plattform Amazon offen. Somit ist der Ausbau des eigenen Großtransports und Letzte-Meile-Dienstes nicht nur als Notmaßnahme eines an der Unfähigkeit der Logistikbranche leidenden Online-Händlers zu begreifen, sondern als groß angelegter Angriff auf die Unternehmen in ebendieser Branche. Denn hier arbeitet Amazon nicht nur am eigenen Volumen, was ja – gemessen an seinem Anteil im Online-Handel und folglich im Paketgeschäft – bedrohlich genug wäre, sondern bietet diese Kapazitäten sofort dem Markt an.
Das ist nichts, was Amazon nicht schon gemacht hätte. Das ist vielmehr klassische Amazon-Logik und -Umsetzung par excellence: Ursprünglich war der Konzern bloß Händler, sah aber, dass seine Plattform nicht voll ausgelastet war und für andere Händler interessant sein könnte. So wurde Amazon zum Marktplatz. Und als Amazon Serverkapazität übrig hatte, kam dasselbe Prinzip zum Einsatz – man verkaufte Zugang dazu – mit dem Ergebnis, dass Amazon Web Services heute in der IT-Branche unumgänglich ist.
Kurz: Erfolgreich skalieren kann Amazon erwiesenermaßen. Warum soll es in der Logistik anders sein?