Das ist in diesem aufgewühlten deutschen Herbst eine Nachricht, die man – wenn überhaupt – wohl nur am Rande mitbekommen hat: Wursthersteller Rügenwalder Mühle wird übernommen. Das bisher familiengeführte Unternehmen aus Niedersachsen bekommt im rheinischen Lebensmittelkonzern Pfeifer & Langen einen neuen Mehrheitseigentümer. Dabei wird die – vor allem unter Veganern und gesundheitsbewussten Kunden – sehr beliebte Marke mit der roten Windmühle erhalten bleiben und kann an ihrer Erfolgsgeschichte von nachhaltiger Transformation weiterschreiben. Nichts zu sehen also, bloß der bundesdeutsche Kapitalismus im Normalbetrieb. Weiterfahren.
Doch möchte ich hier kurz anhalten. Sehen wir uns erst einmal die Pfeifer & Langen Industrie- und Handels-KG näher an. Ich zitiere den Wikipedia-Eintrag:
„Historischer Kern des Konzerns ist der Zuckerhersteller Pfeifer & Langen. Die anderen Aktivitäten der Gruppe werden von den Teilkonzernen Intersnack, einem Hersteller von Snack- und Knabberprodukten, und dem 2019 geschaffenen Teilkonzern Naturkost Group, mit Geschäftsaktivitäten in Herstellung und Vertrieb von funktionellen Lebensmittelrohstoffen, funktionellen Proteinen und Kohlenhydraten, gehalten. Zudem hält die Gruppe einen 50 %-Anteil an dem Lebensmittelhersteller Krüger.“
Krüger ist übrigens ebenfalls auf Getränke, Schokolade und Zuckerwaren spezialisiert.
Bin ich’s nur, oder wirft das nicht eine ethische Frage auf? Das Unternehmen Rügenwalder Mühle hat nämlich viele Jahre lang sein Markenimage um die Themen Nachhaltigkeit und Transformation aufgebaut. 2016 etwa äußerte sich Inhaber Christian Rauffus in der FAZ so: „Ernährungsphysiologisch ist die Wurst nicht so der Brüller. (…) Ich kann mir vorstellen, dass wir in 20 Jahren ohne Fleisch arbeiten.“ Spätestens ab dann war die Botschaft: Wir sehen, dass die übermäßige Produktion und der exzessive Verbrauch von Fleischprodukten weder für Umwelt noch Mensch verträglich sind; wir sind zwar Wursthersteller, können aber unser Bestes geben, mit der Zeit zu gehen.
Überbracht und verstärkt wurde diese Botschaft mit einer für die eher behäbige Lebensmittelindustrie beeindruckenden Online-Direktvermarktungsstrategie: Im Zentrum steht eine schicke Webseite, auf der das Wort „Vegan“ einem ins Gesicht springt und zahlreiche Rezepte für fleisch- und milchproduktlose Carbonara & Co. zu finden sind, umrankt von hippen Social-Media-Auftritten und einem digital-verschlankten Bewerbungsverfahren für Jobs, die „Gesundheit“, „Work-Life-Balance“ und „nachhaltiges, ökonomisches, ökologisches und soziales Handeln“ versprechen…
Da frage ich mich also schon, wie der Verkauf an einen Zuckergiganten alter Schule mit dem ganzen bisherigen Engagement in Einklang zu bringen ist. Zucker – so viel zur Erinnerung – wird immer mehr als wahrer Treiber vieler Zivilisationserkrankungen verstanden, dessen gesundheitsschädliche Auswirkungen Hersteller – wie unter Wissenschaftlern zunehmend gemutmaßt wird – in Tabakindustriemanier seit Jahrzehnten zu kaschieren versuchen. Ernährungsphysiologisch auch nicht so der Brüller, also. Insofern kann man hier meines Erachtens nicht nur von einem Verkauf, sondern ruhig von einem Aus-verkauf der Rügenwalder Mühle reden.
Das ist traurig für die Kunden, die bislang die Wurst – und vor allem: die veganen Wurstersatzprodukte – der Marke gekauft haben im Willen, eine ökologischere und gesündere Wahl zu treffen. Ja, sogar im Bewusstsein, das zu tun. Denn echte Transformationsergebnisse will ich Rügenwalder gerade nicht absprechen. Es stimmt schon, dass sie den Anteil von Fleisch in ihrem Produktsortiment ordentlich reduziert haben und mehr Anstrengungen als der Durchschnitt unternehmen, nachhaltig zu handeln. Dabei mussten vor allem die engagierten Veganer unter den Kunden schon immer ein Auge zudrücken: Wer Rügenwalder Mühle kaufte, unterstützte neben tierfreier Lebensmittelproduktion immer auch die Erzeugung von Fleischwaren. Das Unternehmen schwenkte ja nicht aus reiner Überzeugung auf Vegetarisches und Veganes um: Sonst hätte sie die Fleischlinien ganz eingestellt.
Ein Auge zudrücken müssen Konsumenten mit Prinzipien allerdings stets und ständig. Das kennen sie, das können sie. Geht es doch nicht anders. Das ist Realismus. Ganz nach der reinen Lehre können nur die Allerwenigsten leben, also schließen die meisten ethisch bewegten Konsumenten Kompromisse mit Marken – und mit sich selbst. Können diese Kunden aber nunmehr nicht nur ein, sondern zwei Augen zudrücken, wenn jetzt der Ertrag aus ihrem Einkauf letztendlich bei einem industriellen Zuckerkonzern ohne erkennbare Nachhaltigkeitsambitionen in der Tasche landet?
Ich finde jedenfalls, sie haben allen Grund, von Rügenwalder Mühle enttäuscht zu sein – genauso wie die Eigentümer selbstverständlich das Recht hatten, an einen Zuckerkonzern zu verkaufen. Oder wie Viessmann (wie im Frühjahr geschehen) natürlich sein zukunftsträchtiges Heizpumpengeschäft abstoßen durfte und der Otto-Konzern gegen keinen Gesetz verstieß, als es 2021 die Retourenabwicklung nach Polen und Tschechien auslagerte. Nur sollten sich dann die Eigentümer von Firmen, die mit Transformationserzählungen und hartnäckigem Pochen auf den ach so sozialverträglich-und-langfristig-denkenden Werten des berühmten Deutschen Mittelstands nicht wundern, wenn man das nicht unbedingt gut findet.
Wir müssen uns in Deutschland so langsam die Frage stellen, wozu die ganzen Transformationsprozesse, die in den letzten Jahren (keinen Tag zu früh) angestoßen worden sind und zum Teil schon Früchte tragen, eigentlich dienen sollen. Was ist eigentlich das Endziel? Ist es – Wie ich es oft höre und selbst befürworte – unsere weltweit einzigartige Herstellungsdichte und -vielfalt zu erhalten und mit der nachhaltigen Bewirtschaftung planetarer Ressourcen zu versöhnen? Oder geht es doch nur darum, eine Braut für den Höchstbietenden hübsch zu machen?
Ihr seht: Das ist keine Kapitalismuskritik, aber schon die Fragestellung, welche Art von Kapitalismus wir wollen. Jetzt könnt ihr weiterfahren.