Als Berater im digitalen Umfeld kommt man leider äußerst selten um die Rolle des dunklen Propheten herum. Zumal man immer eine nahezu todsichere Wette eingeht, wenn man die Bedrohung durch Amazon für Mitbewerber in seinem jeweils neuen Geschäftsfeld unterstreicht. Wo habe ich nicht überall alles recht gehabt, als es hieß: „X? Das wird selbst ein Amazon online nie können“?
Doch selbst für eine Kassandra qua Amt, wie ich es als digitaler Stratege nun einmal bin, ist der lokale Einzelhandel – vor allem der lokale Lebensmitteleinzelhandel – kein so von vornherein ausgemachtes Trauerspiel. Haben sich schließlich bereits andere, einst als unschlagbar geltende US-Riesen sich an diesem scheinbar saftigen Stück deutschen Einzelhandels die Zähne ausgebissen. Walmart etwa musste sich vor 10 Jahren mal geschlagen geben.
Hier bewege ich mich also ausnahmsweise im Bereich der Hypothesen, nicht der Prophezeiungen. Nehmen wir aber jetzt mal an, dass Amazon mit seinem neuerdings in Deutschland gestarteten Angebot Amazon Fresh tatsächlich dort Erfolg hat, wo andere gescheitert sind. Dann stellt sich zuallererst die Frage, was dies für die Hersteller und Lieferanten im deutschen Lebensmittelmarkt bedeuten würde. Die bestehenden Händler würden sich sicherlich an Amazon orientieren müssen – wie das bereits für Akteure in vielen anderen vom US-Konzern erfolgreich eingenommenen Segmenten der Fall gewesen ist. Aber was genau wären die Auswirkungen für Hersteller?
Hello Amazon Fresh!
Zuerst einmal die Faktenerfassung zu Amazon Fresh. Zur Zeit ist der Konzern mit dem Angebot in Teilen Berlins, Potsdam und bald wahrscheinlich auch München verfügbar. Wie immer sind die Ziele sehr ambitioniert: Es gibt einen Dreijahresplan, der auf 7% Market Segment Share am LEH Panel abzielt, was ca. 10 Milliarden Euro entspricht.
Vom Angebot her: Mit einem Sortiment von 85.000 Produkten und der Einbindung einer besonderen lokalen Note durch eine Kooperation mit – in Amazon-Sprech – „Lieblingsläden“ will Amazon zahlungskräftige Kunden dazu bewegen, ihr angestammtes Einkaufsverhalten im Bereich Lebensmittel zu ändern. So können sich Kunden auch frisches Fleisch von meinem Lieblings Steak-Laden in Berlin, dem „Filetstück“, mit ihren Fresh-Bestellungen liefern lassen. Dieses Programm wird stetig – auch anhand von Kundenfeedback – ausgebaut und ist in dieser Form für alle weiteren Regionen geplant. Wie immer stehen für Amazon der Kunde und seine Bedürfnisse im Fokus, nicht das bestehende Sortiment. Das ist – verglichen mit existierenden Online-Lebensmittelangeboten in Deutschland – ein Novum.
Zur technischen Seite: Grundsätzlich kann am nächsten Tag geliefert werden (die Warenverfügbarkeit dafür ist aber noch nicht durchgängig vorhanden). Die Lieferung gekühlter oder gefrorener Ware erfolgt in Kühltaschen bzw. mit Trockeneis. Wichtiger Punkt: Amazon Fresh ist nur für Prime-Mitglieder zugänglich. Für denjenigen, der deswegen eine Prime-Mitgliedschaft abschließt, fallen zusätzlich nach dem ersten Gratis-Probemonat 10 Euro monatliche Gebühren an. Dafür sind Bestellungen ab 40 Euro versandkostenfrei (darunter werden 5,99 EUR berechnet). Das Bestellfenster reicht von „vor 7 Uhr“ bis „zwischen 20 und 22 Uhr“ montags bis samstags. Die Anlieferung erfolgt persönlich oder an einen sogenannten „sicheren Ort“ (Terrasse, Garten, usw.). Die Logistik wird über eigene Fulfillment-Center abgewickelt und der Kurierdienst ist DHL.
Und nun zum Preis: Amazon richtet sich nach bestehenden Online-Food-Retailern – also: vorwiegend REWE online und Edeka 24. Drogerie-Produkte sind größtenteils in der preislichen Nähe von DM und Rossmann. Der Kunde soll ja nicht vom Preis verschreckt werden, sondern auch in Deutschland lernen, dass niemand wegen eines Glases Knoblauch-Dip oder Ähnlichen samstags Auto fahren, Regale absuchen, und Schlange stehen muss. Wenn’s nach Amazon geht, wird der deutsche Konsument nämlich bald alles nach Hause geliefert bekommen wollen, damit er wichtigeres mit seiner wertvollen Freizeit anfangen kann (zum Beispiel: eine der neuen Serien auf Prime gucken…).
Erfrischung im Markt
Insgesamt also ein fairer-bis-guter Deal für Endkonsumenten – und eine akute Bedrohung für den Lebensmitteleinzelhandel. Denn das Geschäft mit Lebensmitteln für zu Hause ist ja bisher so etwas wie die letzte Bastion gewesen, die wie Obelix und Asterix gegen die römischen Krieger standhalten konnte. Was allerdings unter anderem daran liegt, dass diese noch nicht wirklich zum Ansturm aufgelaufen sind: Schon seit Jahren heißt es immer wieder „Amazon werde demnächst mit Lebensmittellieferungen starten“ – was dann aber nicht passierte.
Erst jetzt wird sich also zeigen, ob der Lebensmitteleinzelhandel von sich aus ein „offliniges“ Geschäft bleibt, da Konsumenten Erwartungen hegen, die sich online schlichtweg nicht erfüllen lassen. (Einen schrumpeligen Kohlrabi kann man auf dem Wochenmarkt ausschlagen; retournieren nach Anlieferung ist bestimmt komplizierter.) Oder ob Konsumenten, wie in so vielen anderen vermeintlich sicheren Offline-Oasen bislang, doch eher Convenience schätzen und gar nicht die Ware vor Kauf anzufassen brauchen (siehe: Mode, Möbel uvm). Zumal: Wenn einer der Online-Anbieter schrumpelige Kohlrabis in den Griff bekommen kann und produktqualitätsmäßig selbst im Bereich Frischwaren auftrumpfen kann, ist es mit Sicherheit Amazon.
Das ist schlecht für Supermärkte (vor allem die, die nicht mit Frische glänzen). Was aber bedeutet das für Lebensmittelhersteller?
Steile Lernkurve für Lebensmittelhersteller
Wie üblich hat Amazon hier bereits einen herben Vorgeschmack des angedachten Umgangs mit Herstellern geliefert. So haben meiner Marktinformation zufolge viele Hersteller erst aus den Medien erfahren, dass sie und ihre Produkte ab jetzt Teil des Amazon-Fresh-Programms sind, was auch die selbst für Amazon astronomische Anfangsanzahl von 85.000 Artikeln im Sortiment erklärt. Hier werden Lebensmittelhersteller – vom Bauer bis zum Butterreisbeutelproduzenten – also lernen müssen, sich gegen den US-Riesen zu behaupten.
Einerseits verfügen Lebensmittelproduzenten über mehr Erfahrung mit der Ausübung von Marktmacht durch Großkonzerne, als andere Branchen es zum Eintritt Amazons taten: Supermarkteinkäufer drückten nämlich schon Preise und drohten bereits mit bundesweiter Auslistung, als in anderen Branchen noch Kaffee und Kuchen unverzichtbarer Teile gemütlicher Quartalsgespräche waren. Andererseits zeigen diese Erfahrungen aber ziemlich deutlich, wie schwierig es eben ist, mittels massiv aufgestellter Verhandlungspartner gewinnbringend an preisbewusste deutsche Endkonsumenten zu verkaufen. Man schaue sich nur die desolate Lage der Milchbauern an.
Abgesehen vom Preis- und Konditionendrücken ist Amazon in einer anderen Disziplin geübt, die Lebensmitteleinzelhandelsketten ebenfalls schon lange zu beherrschen: Ersatz durch Eigenmarken. Letztendlich umfasst die Amazon-Basics-Linie heute schon vieles, von Fotografie-Zubehör zu Akkus und Batterien: Was soll den Konzern davon abhalten, gewinnbringende Verkaufsschlager an den Umsätzen in der Fresh-Sparte auszumachen und das eigene Sortiment um Zahnpaste, Zinktabletten, und – perspektivisch –Zanderfilets zu erweitern?
So wird es im Lebensmittel- und Drogerieeinzelhandel wie in allen anderen Segmenten darum gehen, an den beträchtlichen Wachstumschancen bei Amazon zu partizipieren, ohne sich davon über Maß abhängig – und damit erpressbar – zu machen. Ansätze dazu haben wir bereits in einer Studie detailliert geliefert . Vorläufige Kurzfassung für den Lebensmittelmarkt: Große oder nischige Marken müssen sich erst einmal wenig Sorgen machen. Denn weder die Markenausstrahlung von etwa Coca Cola noch die kultige Beliebtheit von einer Fritz-Cola kann über Nacht von „AmazCola“ überstrahlt werden. So können sie sich bei Amazon Fresh wahrscheinlich gut behaupten. Anbieter von Austauschbarem müssen aber aufpassen – und leider zeigt sich für gewöhnlich erst im Nachhinein, welche Marken doch keine so hohe Bindungskraft hatten, wie sich die Inhaber das dachten…
Zumal sich übliche Markenwerbungsmaßnahmen und Product-Placement-Aktionen nicht eins-zu-eins aus dem (bereits hart umkämpften) Verbrauchermarkt übernehmen lassen. Paid Advertising (AMS & Co.) ist aktuell innerhalb von Fresh zwar noch nicht verfügbar, soll aber in vier bis acht Wochen möglich sein. Hier wird ein harter Wettbewerb entstehen: Im analogen Lebensmittelhandel ist eigentlich schon glasklar, was sich im durchschnittlichen Einkaufswagen so wiederfindet. Der gewöhnliche Gang durch den Verbrauchermarkt ist bis ins letzte Detail durchleuchtet. Bei Amazon Fresh gibt es aber noch keine Konsumentengewohnheiten. Und: Man weiß noch nicht, auf welche Art von Ansprache Lebensmittelkunden online reagieren.
Wer sich also als Lieferant hier schnell und nachhaltig positioniert, hat die Möglichkeit, sich bei Kunden völlig neu zu inszenieren. Gerade im seit Jahrzehnten festgefahrenen Lebensmitteleinzelhandel gibt es diese Möglichkeit nicht besonders oft. Für Hersteller ist Amazon Fresh somit nicht nur eine Bedrohung, sondern eine großartige Chance, sich im E-Commerce-Umfeld zu platzieren, wenn schnell genug reagiert wird.
Für die Platzhirsche der Supermarkt-Regal-Platzierungen, die weiterhin ausschließlich auf den stationären Handel fokussieren, wird der Schlag allerdings schnell und hart erfolgen: Marktanteile werden verloren gehen und heute einfach zu gewinnende Kundenbeziehungen werden hinterher bei einem verspäteten Online-Einstieg zu horrenden Preisen zurückgekauft werden müssen. Das kennt man aus anderen Bereichen: Den Herstellern, die früh in Biet-Systemen wie Google Adwords und Facebook aktiv waren, fließen jetzt überproportional hohe Gewinne zu – im Gegensatz zu den Späteinsteigern, die jetzt wesentlich kapitalintensivere Kundenakquisition betreiben müssen.
Ach was! Da bin ich wieder ganz in der Rolle des Unheilspropheten aufgegangen. Nun, wie eingangs gesagt: Der Lebensmittelmarkt kann anders sein als das Geschäft mit Büchern, Musik, Elektronikartikeln, Mode, Schmuck und vieles mehr. Das muss er aber nicht. Jedenfalls sehe ich noch nicht den Wochenmarkt mit freundlichen Bauern und knackfrischen Kohlrabi von Amazon Fresh in seiner Existenz bedroht. Aber die allsamstägliche Hölle des überfüllten Supermarkts und die Suche nach einem ohnehin unbegrenzt haltbarem Glas Knoblauch-Dip? Da müsst ihr mir mal wieder ein bisschen Schwarzmalerei verzeihen…