2020 ist wahrlich das Jahr der nicht enden wollenden Überraschungen. Vor elf Monaten hätte ich nie gedacht, dass man zu Friedenszeiten ganze Bevölkerungen der westlichen Welt derart in die Pflicht nehmen können würde, wie es seitdem geschehen ist. Ebenfalls unvorstellbar für mich Anfang 2020: Dass die Deutschen massenhaft eine Gesundheitstracking-App herunterladen würden. Zum Jahresende geht die Corona-Warn-App aber auf die 20 Millionen Downloads zu. So ist es für dieses verrückte Jahr nur folgerichtig, dass auch Amazon etwas Verrücktes tut.
Dabei ist 2020 für Amazon – völlig un-überraschend – prima gelaufen. Denn, dass der Distanzhändler, Streaming-Dienstleister und Server-Anbieter aus Seattle in einer Pandemie, in der von den Menschen verlangt wird, zu Hause zu bleiben, überproportional profitieren würde, war wirklich unschwer zu erkennen. Das Überraschendste bislang beim Riesenkonzern war, dass sich sein Gewinn nicht bloß verdoppelt, sondern verdreifacht hat.
Aber, wie gesagt, 2020 ist eben immer für eine Überraschung gut. Und so habe ich nicht schlecht gestaunt – und das gleich mehrfach –, als mir der „Amazon KMU Impact Report 2020“ zu Händen kam.
O-Ton: „Bei Amazon ist die Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen ein Kernelement unserer Arbeit.“
Im Bericht detailliert Amazon auf elf schön gestalteten PowerPoint-Slides, wie gut sie kleinere und mittlere Unternehmen unterstützen, was sie alles für Einzelunternehmer, Software-Entwickler und unabhängige Autoren tuen und wie sie damit sogar den Exportstandort Deutschland stärken. Das alles mit Zahlen untermauert und Fallbeispielen geschildert – und mit dem unübersehbaren Ziel, zu argumentieren, dass Amazon nicht der böse Monopolist aus den USA, sondern eher der nette Nachbar von nebenan ist.
Kostprobe gefällig? „Dieser Report zeigt den Erfolg von deutschen Unternehmerinnen und Unternehmern und hebt hervor, wie Amazon kleine und mittlere Unternehmen beim Verkauf im In- und Ausland sowie bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze unterstützt.“ Amazon spricht in feinstem Kommunikationsprofi-Zungenschlag von Arbeitsplätzen in Deutschland? Ja, habe ich auch nicht erwartet.
Und das war nur die erste Überraschung. Weiter geht’s mit spannenden Fallbeispielen, die sämtliche Steckenpferde der deutschen Wirtschaftsfolklore auf einmal reiten. Da ist die bayerische Hutmacherin, die ihre 155-Jahre-alte mittelständische Familienfirma mit Verkauf über Amazon-Marketplaces durch die Corona-Krise brachte. Dann kommt die Berliner-Szene-Gründerin, die mit sibirischem Kunsthandwerk aus Birkenrinde über einen Online-Shop beste Umsätze macht – natürlich dank der Teilnahme an einem Amazon-Förderprogramm. Es gibt sogar den Versicherungsvertreter, der einsieht, dass er mit seinem Leben was Sinnvolleres anfangen könnte, und jetzt einen Paketdienstleister im Ökosystem Prime aufgebaut hat.
Als dann auf Seiten 5 und 6 die Handelsblatt-Spezialreport-mäßige Aufstellungen der Bundesländer kamen – je nach Zahl der an Amazon angebundenen KMUs sowie nach Höhe der über Amazon erzielten Exportverkäufe aufgeschlüsselt – dachte ich kurz, ich hätte endgültig den Verstand verloren. „Amazon? Bist du das?“ fragte ich ungläubig und klopfte sachte an den Bildschirm. Oder vielleicht war das hier eine Persiflage, die so hintersinnig war, dass man sie kurz für bare Münze nahm… Amazon und die deutsche Exportwirtschaft? Klar, das sind keine Gegensätze. Aber wann hat man schon beide Begriffe in einem Satz gehört – jedenfalls: in einem positiv konnotierten Satz?
Warum, weshalb, wieso wird hier von Amazon kommuniziert?
Ein paar kurze Rücksprachen später stand fest: Der Bericht ist echt. Amazon legt offenbar auf einmal Wert darauf, seinen Beitrag zur deutschen Wirtschaft für die Öffentlichkeit herauszuarbeiten. Ja, dasselbe Amazon, dass jahrelang Marketing & Communcations für Geldverschwendung hielt und maßgeblich nach zwei Devisen handelte: „Reibungslose Logistik ist die beste Werbung“ und „Einmal der Ruf ruiniert, lebt es sich herrlich ungeniert“. Ja, dasselbe Amazon, dass Vendor-Manager in München öfter wechselte, als viele derselben ihre Bettwäsche, bis bekannte Herstellermarken entnervt aufgaben – und deren Brandbriefe der Konzern eiskalt an sich abperlen ließ.
Ja, ausgerechnet dieses Amazon übt sich jetzt in Unternehmenskommunikation. Dass also Amazon kommuniziert, ist schon an und für sich interessant. Und was hier kommuniziert wird, ist es auch. Klar, es handelt sich um Corporate-Comms – und ebenso klar sind Amazon-Zahlen eine notorische Blackbox – weshalb man hier mehr als die eine sprichwörtliche Prise Salz dazu nehmen muss. So ist es wohl – auch das Ergebnis meiner Rücksprachen – dass Amazon mit „KMU“ den englischen Begriff „SME“ eins zu eins übersetzt hat und damit auf Deutsch eine andere, zufällig dem Amazon-Messaging schmeichelhaftere Rahmengröße absteckt. Bestimmt nur eine kleine Unaufmerksamkeit bei der Übertragung. Trotzdem: Dass Amazon-Verkaufspartner in Deutschland jetzt mehr als 120.000 Euro im Schnitt umsetzen – und dass diese Zahl etwa im Vergleich zum Vorjahr um 30.000 Euro (also: 25%!) angestiegen ist – zeigt die Wucht vom organischen Wachstum Amazons sowie von der Corona-Krise allgemein. Von den KMUs, die auf Amazon.de verkaufen, heißt es weiter, haben über 3.300 mehr als eine Million Dollar umgesetzt und insgesamt über 110.000 Arbeitsplätze geschaffen.
Ob die Zahlen wirklich so stimmen und – noch wichtiger – wie man sie im Gesamtgefüge der deutschen Wirtschaft einordnen muss, steht erst einmal auf einem anderen Blatt. Was aber hier kommuniziert wird, spricht Bände: Amazon redet auf einmal über die Arbeitsplätze, die in seiner Lieferkette gesichert werden. Vielleicht haben sie in der Münchner Kommunikations-Abteilung aufgestockt und dabei paar Leute von BMW rübergelockt? Denn das Manöver kennt man von der Lobbyarbeit der Autobauer. („Jeder siebter Arbeitsplatz in Deutschland hängt von der Autoindustrie ab…“)
Versteht mich bitte nicht falsch: Das alles ist völlig legitim! Unternehmen dürfen ruhig ihre eigenen Erfolge benennen und hervorheben, wo diese mit gesellschaftlich erwünschten Zielen übereinstimmen. Und in Deutschland stehen Öffentlichkeit und Politikbetrieb eben auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, auf Exporterfolge und auf mittelständische Familienunternehmen. Dass Amazon in allen drei Anliegen vielleicht gar nicht so schädlich ist, wie gemeinhin angenommen, darf das Unternehmen ruhig zeigen. Ich würde es als Berater sogar ausdrücklich empfehlen.
Nur: Jahrelang schien Amazon überhaupt nicht zu interessieren, wie es in Deutschland wahrgenommen wurde. Der Online-Handel-Marktanteil von über 50% sprach für sich. Dem deutschen Konsumenten war es ganz offenkundig Schnurz, dass gefühlt jede zweite Woche Enthüllungsberichte aus den Amazon-Lagern im Fernsehen liefen und die Zeitungen vollgestopft mit Berichten von verzweifelten Karstadt-Mitarbeitern waren. Dasselbe Muster kann man übrigens auch im Lebensmitteleinzelhandel beobachten: Der Deutsche hat Mitleid mit Mastschweinen, wenn sie in der ARD bei Panorama gezeigt werden – und kauft deren Nackensteaks bei Lidl für 1,99€ das Kilo. Kühl strategisch besehen gab es wohl für Amazon genauso wenig Bedürfnis zu kommunizieren, wie für ALDI oder Penny.
So bleibt die Frage, warum Amazon anfängt, zu kommunizieren – und warum ausgerechnet jetzt, wo das Unternehmen in der Corona-Krise sein Wachstum von „Turbo“ auf „Ultraturbo“ hochschalten konnte und dabei medial gar nicht so schlecht wegkam. Das eindeutig asozialere Verhalten legten nämlich deutsche Markenhersteller wie Adidas und Lebensmittelbetriebe wie Tönnies an den Tag, während Amazon eine Corona-Zulage und passende Arbeitsschutzmaßnahmen einführte.
Zu den Gründen kann man letztendlich nur spekulieren. Merkt Amazon etwas von der oft aufgestellten (aber schlecht zu überprüfenden) Behauptung, dass jüngere Konsumentenschichten Corporate-Social-Responsibility höher bewerten beim Einkauf als Vorgängergenerationen? Vielleicht gibt es konzerninterne Ergebnisse, die zeigen, dass Amazon die jüngeren, sozialeren Käufer ausgehen. Oder vielleicht hat der immer schärfer gewordene Ton in der Politik Amazon einen Schreck verpasst. Derzeit sieht Regulierung oder kartellrechtliches Vorgehen gegen Amazon zwar unwahrscheinlich aus: Amazon hat sich in der Corona-Krise als sicherer, zuverlässiger, ja systemrelevanter Versorger erwiesen. Auf europäischer Ebene haben Google und Facebook aber trotz (beziehungsweise: gerade wegen) aller Marktmacht schon eins auf die Mütze bekommen. Interessanterweise prangt auf jeder Seite des Berichts eine Europa-Karte und es ist auch oft die Rede davon, wie Amazon KMUs europaweit hilft. Vielleicht bewertet der Konzern mittlerweile eine härtere Gangart aus Brüssel als strategisches Risiko, dem es mit politischer Kommunikation entgegenzutreten gilt?
Oder vielleicht haben die Manager bei Amazon in der Corona-Krise eine Art Läuterung erlebt und ihre Soziale-Markwirtschafts-Ader entdeckt? Nun ja: 2020 ist ein urkomisches Jahr voller echter Überraschungen gewesen – aber so abgedreht wiederum auch nicht.